Kaum jemand würde verneinen, dass Roger Federer zu den besten Sportlern der Welt zählte und nicht nur durch sein Tennisspiel, sondern auch durch seine menschliche Art nachhaltige Spuren hinterlässt. Seine Entwicklung vom emotional unkontrollierten Junior zum Mozart des Tennis ist nicht nur in sportlicher Hinsicht bemerkenswert; sie ist darüber hinaus eine eindrückliche Fallstudie mentaler Stärke. 

Als junger Kanusportler hörte ich immer wieder die Aussage, „entweder bist du mental stark oder nicht.” Diese Behauptung hemmte mich schon früh sehr stark, sodass das Training der mentalen Stärke erst gegen Ende meiner Karriere als Leistungssportler zum wichtigsten Thema wurde. Umso stärker wuchs danach mein Verlangen, die Zusammenhänge der mentalen Stärke noch besser zu verstehen. Was mit einer positiven Besessenheit begann, mündete schließlich in meine Berufung.

Roger Federers Karriereende am Laver Cup 2022 markierte das Ende einer großartigen Tennisära, doch seine Erfolge bleiben uns erhalten. Die folgende ZDF-Reportage zeigt Federers bemerkenswerten Werdegang:

https://www.zdf.de/nachrichten/sport/tennis-laver-cup-abschied-federer-100.html

Als Mentaltrainer habe ich mir Federers Reportage unter diesem Gesichtspunkt sehr genau angeschaut und dabei die spannende Frage, was seine mentale Stärke besonders auszeichnet, in den Mittelpunkt gestellt. Im Zentrum meiner Darlegungen stehen meine persönlichen Beobachtungen, die sowohl auf persönlichen Erfahrungen als langjähriger Leistungssportler als auch auf meinem intensiven Studium der Überflieger*innen und dem Mentoring vieler Größen im Sport und Beruf beruhen. Als Quintessenz haben sich acht markante Merkmale herauskristallisiert.

1. Spass am Spiel

Roger Federers Mutter Lynette erwähnt in der Reportage, dass bereits im Alter von vier oder fünf Jahren ersichtlich gewesen sei, dass das Ballspiel Roger großen Spaß und Freude bereitete, was eine wichtige Grundlage für den langanhaltenden Erfolg – die sogenannte intrinsische Motivation – ist, ohne die viele junge Sportler*innen oft früh ausbrennen. Dazu kommen weitere Gründe für ein frühes Scheitern: übermotivierte Eltern, die ihre Kinder bereits im zarten Alter mit leisem Druck auf den Erfolgsweg führen sowie das unbewusste Verlangen, dabei die eigenen verpassten Erfolge und fehlende Erfüllung wettzumachen. Der spielerische Spaß hat aber weitaus größere Auswirkungen: Freude ist ebenso wie Angst oder Wut ein Gemütszustand, und positive Emotionen spielen für jeden Erfolg eine zentrale Rolle.

2. Siegerhaltung

Weiter war für mich Rogers Siegeswillen äußerst bemerkenswert. Natürlich beantworten beinahe alle Sportler die Frage, ob sie gewinnen wollen, mit einem klaren Ja, aber das allein widerspiegelt noch keinen festen Siegeswillen.

Roger Federers öffentliche Aussage von 1998, dass er gegen André Agassi spiele, um zu gewinnen, zeugte von einer unerschütterlichen Gewinner-Mentalität. Die innere Haltung eines Spitzensportlers entscheidet zu 95 % über Erfolg oder Misserfolg und sie umfasst sowohl die Gesamtheit aller Gedanken als auch Gefühle und Handlungen. Wenn eine der drei Komponenten nicht im Einklang mit dem angestrebten Ziel ist, schießt der Sportler am Ziel vorbei. Wenig erstaunlich gab es oft auch kritische Stimmen, die Roger Federers Siegeswillen als arrogant bezeichneten. Es bedarf einer persönlichen Abgrenzung gegen solche Meckerer. Um sich davon nicht beirren zu lassen, brauchen Sportler*innen vor allem totale Bereitschaft, Risiken, z.B. im Rahmen einer drohenden Niederlage, kompromisslos einzugehen.

Im Mentoring von Leistungssportler*innen fällt mir immer wieder auf, dass genau an diesem Punkt sehr viele lieber auf Nummer sicher gehen. Diese Art der Zurückhaltung bildet eine sehr große Hürde, die sie überwinden müssen, um ihre Fortschritte nicht verfrüht zu stoppen, und das oft unbedacht und völlig unbewusst.

Weiter geht´s im zweiten Teil.